hol den Wein... wir müssen über Gefühle sprechen!
Der Mensch ist von Natur aus emotional, auch wenn wir bemüht sind, dies aus unserem Bewusstsein zu verdrängen. Wir glauben gerne, dass wir die Kontrolle haben; die Kontrolle über unsere Emotionen, unser Leben und die Kontrolle darüber, wie wir auf andere wirken. Doch je mehr wir nach Kontrolle streben, desto mehr entgleitet sie uns, desto fester wird ihr Griff, und das Gegenteil tritt ein - Wir verlieren die Kontrolle!
Hinter diesem Kontrollbedürfnis verbirgt sich das Gefühl der Angst... und wer will das schon fühlen?
Wie können wir in einer Kultur, die Gefühle verurteilt, oder bestenfalls ihren Wert nur teilweise anerkennt, damit beginnen, konstruktiv mit Gefühlen umzugehen, anstatt sie abzutun und sie als unseren Feind zu betrachten, den es zu bekämpfen gilt? Vor allem mit unerwünschten Gefühlen, wie zum Beispiel der Angst...
Gefühle, die nicht in die Kategorie "glücklich" oder "gut" fallen, gelten als unangenehm und nicht akzeptabel und werden deshalb vermieden. So kapseln wir uns von unliebsamen Gefühlen ab, versuchen sie aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, weil wir nicht wissen, warum wir fühlen, was wir fühlen, und schließlich, weil wir nicht wissen wie wir mit dem umgehen sollen, was wir fühlen. Niemand hat uns das beigebracht. Stattdessen beherrschen wir Methoden der Ablenkung, die vom Anrufen eines Freundes, über das Einschalten des Fernsehers, bis hin zum Workaholic-Sein und allen dazwischen liegenden Konsumsüchten reichen. Die Motivation für unser Handeln liegt heute oft in diesem Wunsch, unsere Gefühle zu verdrängen. Anstatt unseren Gefühlen Raum zu geben, schieben wir sie zunehmend unter den Teppich und aus dem Blickfeld, in dem Wahn, dass sie dadurch verschwinden. So ähnlich wie kleine Kinder, die ihre Augen schließen und glauben, sie würden sich verstecken. Doch das ist eine gefährliche Illusion.
Kannst du dich an dein Kleines in der Vergangenheit erinnern...?
„Jetzt hör endlich auf zu weinen! Was erlaubst du dir eigentlich? Schrei nicht so herum! Sitz endlich still! So sprichst du nicht mit uns! Geh auf dein Zimmer und wenn du dich beruhigt hast, kannst du wieder rauskommen!“
Und da sitzt es nun und weiß nicht, wohin mit all seinen Gefühlen. Die Tränen wollen nicht aufhören zu fließen. Es wünscht sich so sehr, dass seine Mutter oder ihr Vater ins Zimmer kommen, es in den Arm nehmen und trösten. Es möchte so gerne verstanden werden. Doch das wird nicht passieren. Das weiß es. Es muss sich wieder beruhigen. Dabei spürt es so viel Wut, Traurigkeit, Frust. Aber da ist auch dieses andere Gefühl. Da ist auch der Zweifel, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Vielleicht sind ja seine Gefühle falsch.
Vielleicht ist das Kleine selbst falsch...?
„Was, wenn mit MIR wirklich was nicht stimmt?“, denkt es sich unter Tränen.
Immer wieder wird es von seinen Gefühlen übermannt. „Ich muss mich zusammenreißen!“, denkt es, schluckt den Kloß und die Tränen herunter, geht wieder lächelnd zu seinen Eltern und entschuldigt sich für seinen Gefühlsausbruch.
"Na siehst du,“ sagt sein Vater, „ich wusste ja, dass es nicht so schlimm ist. Gut, dass du dich wieder eingekriegt hast."
Auch unter Freunden oder in der Schule galt man als Heulsuse oder Waschlappen, wenn man seine Gefühle zeigte. Jungs bzw. Männer haben es da noch schwerer, da ihnen von der Gesellschaft der Stempel aufgedrückt wird, dass „echte Männer“ nicht weinen und ihre Gefühle nicht zeigen sollen.
Kennst du solche Dialoge oder ähnliche Situationen? Was passiert hier wirklich?
Was wurde dir wirklich vermittelt?
Du bist nicht richtig.
Deine Gefühle sind falsch.
Du kannst deinen Gefühlen nicht trauen.
Du kannst dir nicht trauen.
Wenn du nun deine Gefühle verdrängst, verdrängst du einen Teil von dir selbst.
Ich weiß, es macht einem manchmal große Angst, seine Gefühle zu offenbaren und diese tatsächlich zu fühlen. Doch Gefühle sind dazu da, um gefühlt zu werden und sie machen uns lebendig.
Oft sind wir uns gar nicht bewusst, wie viel Kraft es uns raubt, unsere Gefühle zu verdrängen, sie irgendwo ganz hinten in unserem Unterbewusstsein zu verstecken. Die Betäubung von Gefühlen und all die darin investierte Energie manifestiert sich in Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit. Auch unser Körper merkt, dass wir sehr viel Aufwand betreiben, um unsere Gefühle abzusperren und er versucht uns ständig dabei zu helfen, sie zu verstecken. Dies äußert sich darin, dass sich unsere Muskeln verspannen, weil wir krampfhaft versuchen, unsere Gefühle nicht an uns heranzulassen, was zu Unzufriedenheit, Depressionen, Burnout, Lebenskrisen und... ja, sogar zu Krankheiten führt.
Die Kosten sind sehr hoch, viel höher als wir zugeben wollen.
In einem anderen, weniger drastischen Ausmaß bestimmen unsere nicht-gefühlten Gefühle den Eindruck, den wir hinterlassen. Ich spreche von nicht-gefühlten "Gefühlen", weil ich die Aufmerksamkeit auf die Schatten, die sie werfen, erhellen möchte. Denn hier, in den Schatten, verursachen die Gefühle die Antworten und Reaktionen, die wir erhalten. Sie sind insofern schöpferisch, als sie Menschen entweder anziehen und zu uns hinziehen, oder aber abstoßend wirken und die Menschen zurückschrecken lassen. Unbewusste Gefühle üben Macht über uns aus, sie lenken unser Verhalten und unsere Entscheidungen, sie zeigen sich in unserer Körpersprache, dem Tonfall unserer Stimme und der allgemeinen Ausstrahlung, die wir haben.
Unbewusste Gefühle dringen auf vielfältige Weise in die Umwelt ein, z. B. durch:
- Verhaltensweisen, die zu Fragen oder Kritik einladen.
- hektische Gesten, die einen Mangel an Gelassenheit bestätigen.
- Irritationen im Tonfall, die auf eine "Alleswisser"-Haltung hindeuten.
- die flüchtige Geste der Ablehnung, die ein Gefühl der Überlegenheit verrät.
- Betäubung und Flucht.
Die Liste dieser Nuancen ist endlos, und doch sind es gerade diese Feinheiten, die entscheidenden Einfluss darauf haben, ob uns die gewünschten Chancen geboten werden oder nicht. Es sind die Tore, die die Weichen stellen, wie sich das Leben entwickelt. Das ist es, was den Spielraum der Möglichkeiten definiert und die Grenzen unseres Spielfeldes festlegt. Unsere Gefühle haben einen direkten Einfluss auf den Beitrag, den wir leisten können. Ob wir das wollen oder nicht.
Um Zugang zu unserem Einfluss zu bekommen und ihn zu vergrößern, müssen wir uns mit unserer inneren Welt der Gefühle und Sinneswahrnehmungen auseinandersetzen und uns ihr zuwenden.
Gefühle sind da, um zu bleiben, lernen wir sie also zu nutzen, anstatt von ihnen benutzt zu werden.
Ein weiterer Grund, warum wir unsere Gefühle zulassen sollten, ist, damit sie auch wieder vergehen. Das klingt jetzt komisch, nicht wahr?
In sehr vielen Seminaren und Schulungen wird man leider nur gelehrt, wie man seine Gefühle manipuliert, die negativen auflöst und wie man die positiven noch positiver machen kann.
Das macht für Manche, die in der Schnelllebigkeit hängen und Hochleistungen vollbringen müssen, vielleicht auch Sinn, wenn, dann aber nur für kurze Zeit, damit der Verstand ein wacher und weiser Begleiter sein kann.
Im alltäglichen Leben jedoch trennt dein Verstand dich aber von dir selbst, weil er dem Gefühl ständig die Vorfahrt nimmt und immer alles verändern möchte, was auftaucht und dadurch im Widerstand ist.
Ein schlimmes abschreckendes Beispiel sind die teilweise extrem gruseligen Motivationscoachings, wo versucht wird, die Welt durch mentale Tricks und Framings so zu gestalten, dass alles glänzt. Zumindest an der Oberfläche scheint es dann so.
Für ein paar Stunden...
Tatsächlich ist es aber wichtig, dass wir Gefühle erfahren und durchleben müssen, ihnen Raum und Aufmerksamkeit geben, damit sie wieder verschwinden.
Zunächst ist es wichtig zu lernen, unsere Gefühle bewusst wahrzunehmen. Du solltest dich daher mehrmals am Tag fragen:
- Wie geht es mir eigentlich?
- Was brauche ich gerade?
Versuche auf deinen Körper und dein Herz zu hören, sie werden dir die Antwort sagen.
Auch wenn du vielleicht nicht sofort dein Gefühl benennen kannst, so versuche in dich reinzuhören und es zu erkennen.
- Wo sitzt es?
- Wie fühlt es sich an?
- Welche Größe/Farbe/Form hat es?
Versuche wirklich in dich zu gehen und deinen Körper Schritt für Schritt abzugehen.
Dabei kannst du entdecken, ob du vielleicht einen Druck in der Brust verspürst, Verspannungen oder Schmerzen.
Dein Atem kann dir dabei weiterhelfen, deine Gefühle einzuordnen. Wenn wir genau auf unseren Atem hören und tief in unser Herz hineinhören, können wir erkennen, ob wir positive oder negative Gefühle verspüren. Es geht vor allem darum alle Gefühle anzunehmen, ohne etwas damit zu tun – sich berühren und erfassen lassen und es einfach zuzulassen.
Dabei spielt das Aufgeben der Kontrolle eine sehr entscheidende Rolle.
Mit dieser Haltung geben wir nämlich auch die zwanghaften Reaktionen auf. Das gegen Ankämpfen und das Weglaufen hat dann ein Ende. Du erfährst dadurch erst inneren Frieden, weil du begreifst, dass es nicht die Gefühle sind, die den Krieg beginnen, sondern dein Kampf der du gegen sie führst.
Gefühle wollen wahrgenommen werden. Sie möchten wirklich gefühlt werden und wirken dadurch lösend und heilend.
Damit öffnen wir uns dem Leben. Denn das Leben ist nicht etwas, was man kontrollieren kann.
copyright: Michèle Schons - © heartbreathing 2021