gut ist perfekt genug!


seit einer gefühlten Ewigkeit sitze ich an diesem Text. Irgendetwas gefällt mir noch nicht so ganz. Mein Thema soll ja Perfektionismus sein – also sollten auch diese Zeilen perfekt werden. Dafür habe ich bereits x-mal die Absätze geändert, an der Grammatik gefeilt und komplizierte Wörter durch Synonyme-, Pardon, durch sinn- und sachverwandte Wörter ersetzt. Aber zufrieden bin ich immer noch nicht so recht. 
 
Ist denn nun mein Anspruch nachvollziehbar oder geht das schon in Richtung "Perfektionismus"? 

Ja und auch wenn Letzteres zutrifft: Wäre das wirklich so schlimm? 
 
Perfektionismus ist scheinbar modern. Und diese Schwäche geben wir im Gegensatz zu anderen Fehlern recht gerne zu: „Naja... weisst du, ich bin da halt ein wenig perfektionistisch.“ 

In diesen Worten schwingt ein Unterton mit: 
-Ich bin ordentlich, fleißig und auf mich kann man sich totaaal verlassen. 
-Und selbstverständlich beweise ich mit meiner Selbstkritik gleich auch noch meine Demut. 
 
Der Psychologe Raphael M. Bonelli hat jedoch auch Folgendes geschrieben ”ein Perfektionist fühlt sich in seinem eigenen Inneren unwohl, hat eine tief sitzende Angst vor Ablehnung und macht sich und anderen mit seiner Verbissenheit das Leben schwer.“
 
Bitte was??
Was ist denn so schlimm daran, die Dinge perfekt machen zu wollen? 

Der Wunsch nach Perfektion steckt doch eigentlich in jedem von uns, oder?
Der Kollege kocht zum Beispiel gerne aufwendige Gourmet-Menüs sowie im besten Restaurant. 
Dem Nachbarn ist sein blitze-blank-geputztes, glänzendes Auto ein wahrer Segen.  
Ein dritter vernachlässigt vielleicht beides, weil er seit Tagen in der Garage damit beschäftigt ist, an einem kunstvollen Bild zu malen. 
Und alle drei streben doch auf ihre Weise nach Vollkommenheit? 
 
Die bittere Wahrheit ist die, dass Perfektionisten unerbittlich nach Erfolg suchen, aber nichts scheint ihnen dabei gut genug zu sein. Sie fühlen sich oft unzufrieden, was meist an ihren sehr hohen Erwartungen liegt. Da kommt immerzu der Gedanke auf, sie hätten es doch noch besser machen können. Wenn sie ihre Ziele nicht erreichen, fühlen sie sich ziemlich gestresst und bald erschöpft. 
 
Es mag ironisch klingen, aber Perfektion ist nicht immer perfekt. In vielen Fällen bringt sie uns mehr Nachteile als Vorteile. 

Wenn das perfekte Ergebnis zum „Muss“ wird, ist nichts mehr gut genug. 
Die Wohnung ist nie ordentlich, weil immer noch irgendwo etwas rumliegt, oder zu putzen gibt. Die selbstgemachte, kunstvoll dekorierte Torte ist misslungen, weil ein Stück vom Rand abgebrochen, oder ein Schokoladenblättchen umgekippt ist. Ja und klar, mein kleiner Blogeintrag hier ist eh unzumutbar, weil er hier und da präziser, oder besser strukturierter sein könnte. 
 
„Das Wertvollste, was man machen kann, ist ein Fehler – denn man kann nichts aus Perfektion lernen.“ das sagte mal Adam Osborne, der Erfinder des Laptops. 
 
Okay. Eigentlich ist ja nichts Falsches daran, danach zu streben, die Dinge so gut wie möglich zu machen. Aber wir sollten auch unsere Grenzen dabei nicht vergessen. Frustriert zu sein, weil wir keine Perfektion erreicht haben, ist eigentlich das Paradox des Perfektionismus. Und ein solches Gefühl mag Auswirkungen auf unsere körperliche und emotionale Gesundheit haben. Tatsächlich verbindet eine Studie der Yale University (Connecticut, USA) den Perfektionismus sogar mit einem erhöhten Risiko für Depression und Selbstmord. 
 
Und wenn wir etwas tiefer graben würden: im Unterbewusstsein geht es dem Perfektionisten im Grunde genommen nur um eins: 

Er will sich vor Kritik schützen. 

Nur wenn alles perfekt ist, hat niemand einen Grund, ihn zu tadeln oder abzulehnen. 
Denn tief im Herzen hält der Perfektionist sich für nicht liebenswert. 
 
Meine Meinung: Gut ist perfekt genug!

copyright: Michèle Schons - © heartbreathing 2021